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Wie die Dämmerung in die Welt kam

Ganz am Anfang unserer Zeit als die Welt ganz neu erschaffen wurden da gab es nur Tag und Nacht. Da waren es immer genau 12 Stunden Tag und 12 Stunden Nacht. Wenn nach 12 Stunden der Tag endete, brach von einem Moment auf den anderen die Nacht herein und es war stockfinster. Zwischen den beiden da war nur ein winziger, fast unmerklich im Moment des Übergangs. Und diese beiden, Tag und Nacht, die standen sich feindlich gegenüber. Keiner von beiden wollte dem anderen auch nur einen einzigen Moment seines Daseins überlassen. Die Lebewesen hatten sich zu entscheiden, wo sie leben wollten: am Tag oder in der Nacht.
Der Hahn hielt es für eine wunderbare Idee, jeden Morgen mit einem fröhlichen Kikeriki zu begrüßen. Natürlich entschied er sich für den Tag.
Der Maulwurf aber, der in seinen Gängen unter der Erde lebte, brauchte keinen Sonnenschein und also entschied er sich für die Nacht.
Die Sonnenblume indes betete die Sonne als ihre Göttin an. Die konnte sich ein Leben ohne Sonnenschein nicht vorstellen und wählte den Tag.
Die Katze liebte es sehr, des Nachts herumzustreunen und da schenkte ihr die Gottheit ein paar glühende Augen, damit sie nachts besser sehen konnte.
Es galt als gefährlich, sich dieser messerscharfen Grenze zwischen Tag und Nacht auch nur zu nähern. Grausames war schon geschehen: Der Maulwurf hatte tief unten in seinem Gangsystem die Zeit vergessen und hatte seine Nase aus dem Erdreich gesteckt, als die Sonne grade den Tag begann. Das gleißende Licht der Sonne führ ihm in die Augen und machte ihn auf der Stelle blind.
Alle Geschöpfe fanden ihren Platz und lebten zufrieden entweder am Tag oder in der Nacht – unter der Sonne goldenem Schein oder im silbernen Schimmer des Mondes. Es gab nur ENTWEDER – ODER.
So ging dies lange Zeit, bis zu dem Tage, an dem die Gottheit einen Troll schuf. Es war der erste Troll, den es überhaupt gab auf der Welt. Der sah genauso aus wie all die Trolle, die nach ihm kamen und wie all die Trolle heute noch aussehen. Er hatte wuschelig graue Haare, eine Knollennase mitten im Gesicht und zwei ein wenig zu große, behaarte Füße. „Nun, Troll, wo willst du denn leben. Des Tags oder des Nächtens?“, so fragte die Gottheit.
„Uiuiuiuiui – Tag oder Nacht, Nacht oder Tag … das ist schwer …“, schnaubte der Troll und raufte sie die wuscheligen Haare. Ihr müsst wissen, dass jeder Troll ein kleines Problem hat – keiner aus der Familie der Trolle kann sich leicht entscheiden.
Und also bat der Troll um etwas Bedenkzeit. Die Gottheit war gnädig und gewährte ihm 7 Tage Bedenkzeit.
In diesen 7 Tagen zog der Troll nun manchmal am Tag durch die Lande, dann wieder in der Nacht. Aber grad egal, wann er durch die Lande zog – immer sehnte er sich nach der anderen Zeit. War es hell, sehnte er sich nach der Dunkelheit, war es dunkel, sehnte er sich nach der Helligkeit. Er wollte immer genau das haben, was er nicht hatte. (Und da erkennt ihr sicherlich die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Troll.) Und wie ein Tag nach dem anderen verging, da merkte er, dass diese haarscharfe Grenze zwischen Tag und Nacht ihn magisch anzog. In diesem kleinen Moment des Übergangs, in diesem winzigen Zwischenraum, da – und nur da – war er glücklich. Hier wollte er sein und bleiben, hier fühlte er sich wohl. Ach, wenn dieser Raum doch etwas auszudehnen wäre …
Nach 7 Tagen kam die Gottheit wieder zu ihm. „Nun, lieber Troll, hast du dich entschieden? Wirst du ein Tag- oder ein Nacht-Troll sein?“
„Das ist nicht leicht zu entscheiden“, antwortete der Troll. „Der Tag ist so hell, so warm und so freundlich. Und die Sonne lacht so wunderbar. Aber die Nacht, die Nacht ist so dunkel, so mild und kühl. Sie schenkt mir Geborgenheit. Und der Mond, der wundersam silbern glänzende Mond. Was kann es Schöneres geben? Ach, am liebsten hätte ich beides … bitte!“
Die Gottheit überlegte hin und her – und dann plötzlich hatte sie eine Idee: Sie ging zu seiner großen Werkbank, an der sie alle Dinge und Geschöpfe erschaffen hatte und tatsächlich, in der untersten Schublade, da fanden sich ein paar Fitzel der göttlichen Materie, die die Grundlage der Schöpfung ist und inmitten dieser Fitzel da glitzerten noch ein paar güldene Sonnenstrahlen und ein Weniges an glitzerndem Mondenschein. Beides verwob die Gottheit miteinander und schuf daraus etwas Schummeriges. Das war nicht hell aber auch nicht dunkel – grade recht für die Augen, sodass man noch etwas erkennen konnte. Es war geheimnisvoll und vage, ein „nicht mehr“ und ein „noch nicht“. Und die Gottheit nannte es DÄMMERUNG. Und um dieser Dämmerung Raum zu geben, griff die Gottheit mit beiden Händen in den kleinen Spalt zwischen Tag und Nacht und schob die beiden – die ja doch nie friedlich beieinander gewesen waren Stück für Stück auseinander. Da hinein, in diese Lücke, schob sie die Dämmerung – gaaaanz sanft. Und dorthinein in diese Abend– und Morgendämmerung setzte sich der Troll und hatte ENDLICH seinen Platz gefunden. Hier konnte er sehen, was er bislang nicht hatte sehen können. Hier konnte er fühlen, was er bislang nicht hatte fühlen können. Hier, in dieser Dämmerung konnte der Troll alles erkennen. Und so saß er da und sah, fühlte und erkannte. Und darüber kam das Staunen über die wundervolle Schöpfung in die Welt. Was für ein Glück.

gehört bei Anja Koch, in einer Erzählfassung von Xenia Busam Juni 2021



Meine Bitte an all diejenigen, die die Geschichte gelesen haben:

Bitte kreuzen Sie an, was für Sie zutrifft. Danke!

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